Zeitgleich zum freien Fall der Welt ereignete sich in den letzten zehn Jahren der vielleicht nicht ganz so rasante, aber doch ebenso unaufhaltsame Aufstieg des Chris Imler.
„The Internet will break my heart“, sein jüngstes, am 28.02.2025 bei Fun in the church erscheinendes neues Album markiert künstlerisch die bisher steilste Etappe. Wir sehen einen Mann, dessen Gesamtwerk ein Spätwerk ist, auf schwindelerregender Höhe seines Games. „So so, das Internet, das ist ja ein ganz brandheißes Thema“ höre ich es schon hier und da blasiert in den Logen zischeln.
Doch in Wahrheit ist das Thema von lästiger Aktualität. Denn erst jetzt entfaltet das world wide web sein gesamtes enttäuschendes Potential. Alle Wunschträume von einer emanzipatorischen Wirkmacht der digitalen Multitude (wisst ihr noch, Negri/Hardt, haha) sind so restlos ausgeträumt, wie der arabische Frühling vom pränuklearen Winter verschluckt. Während sie in autoritären Staaten von oben gedeckelt werden, dienen Soziale Medien in der sogenannten freien Welt vor allem dem Lumpenkapital zur Zersetzung humanistischer Standards, den Resten der Linken zur selbstzerstörerischen Polarisierung. Aber die niedlichen Tiervideos! Auch sie haben ihre Schattenseite, die Imler im Titelsong zur Sprache bringt: „Die Tiere in der echten Welt stehen unter Druck“.
Was ist aber ästhetisch adäquate Umgang für diese digitale Neufassung der Fortschrittsfrustration? Können das noch die alten kalten Klänge trotziger Anverwandlung an die Entfremdung sein? In der Ansage zur exklusiven Session, die Imler für den innovativen Londoner Sender NTS einspielte, stellte der Moderator ihn in eine Reihe mit Kraftwerk, DAF und NEU! Das ist nicht ganz falsch. Aber es ist doch allenfalls die halbe Wahrheit. Das wird vor allem bei seinen Live-Shows klar. Sie sind bis zu einem gewissen Grad öffentliche Proben. Skizzen, die er auf seinen langen und zahlreichen Reisen auf seinem Laptop anfertigt, werden am selben Abend auf der Bühne ausprobiert, versehen mit ad hoc-zusammengeschusterten Texten und einer Schlagzeugarbeit, die er selbst als „schlampigemotional“ bezeichnet. Seine Performance ist bewusst chaotisch, impulsiv, bei aller Kreuzberger Straßen-Toughness herzlich. Und obwohl Imler – auch bei seinen gelegentlichen Trompeteneinlagen – nie direkte Jazzbezüge hat, kann man bei ihm mit eben so viel Recht an die widerborstigen Keckheit Thelonious Monks oder die angriffslustige Dynamik Ornette Colemans denken, wie an jene oben genannten Vertreter teutonischer Robotik.
Sicher ist: Den improvisatorischen Charme seiner Konzerte kann man nicht eins zu eins auf Platte bringen. Vielleicht gelingt es diesem Album aber erstmals, mit anderen Mitteln dieselbe Erlebnisintensität zu erreichen. Etwa bei dem für Imler-Verhältnisse beinahe verboten tanzbaren „Let’s not talk about the war“. Die mikrosozialen Spannungen und Unruhen angesichts der spaltenden Debatten der letzten Jahre wird hier in etwas ganz und gar Mitreißendes ausgeschlackert. „Agoraphobie“ hingegen bestrickt die Hörerin mit einer opiumrauschhaften Schummrigkeit. Die klangliche Vielschichtigkeit erinnert beinahe an Monsterproduktionen wie Talk Talks „Spirit of Eden“, aber die Atmosphäre ist noch schillernder, gefährlicher, und gekrönt wird sie von der berückenden Stimme des internationalen Underground-Shooting Stars Naomi Klaus. Die, wie ich finde, faszinierendste Klanglandschaft ist Imler und seinem konbrillanten Ko-Produzenten Benedikt Frey aber mit „Liturgy of Litter“ gelungen. Obwohl überwiegend elektronisch, hat man das Gefühl, man wäre mit den Klangquellen in einem Zimmer, als stünde man vor einem anderweltlichen GamelanOrchester, das einen mit seinem irisierenden Geklingel in die schönste ernsteste Heiterkeit treibt.
Dies sind aber nur drei mögliche Einstiege ins Labyrinth des mit Sicherheit mit interessantestem Album des Jahres.